Japan: Der Weg zur Großmacht

Japan: Der Weg zur Großmacht
Japan: Der Weg zur Großmacht
 
Während der gesamten Meijizeit (1868-1912) wurden die Reformen im Inneren von kriegerischen Planungen und Aktionen nach außen hin begleitet. Bereits der Schlachtruf der Erneuerer »Bereichert das Land — Stärkt die Armee« enthielt schlagwortartig das gesamte Programm der angestrebten Modernisierung. In den Vorstellungen der neuen Machthaber, allesamt Angehörige der traditionellen Kriegerkaste der Samurai, sollten Aufbau und Ausbau der bewaffneten Macht absoluten Vorrang haben und diesem Ziel alle anderen Reformen dienstbar gemacht werden. Die militärische Übermacht der Westmächte, die von 1853 an zur gewaltsamen Öffnung des Landes geführt hatte, und deren Überlegenheit in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Wissenschaft, nicht zuletzt ihr offensichtlich auch besseres politisches System, sollten durch eine am Militär ausgerichtete Modernisierung ausgeglichen werden, die vom Westen nur das übernehmen sollte, was zur Selbstbehauptung des Landes notwendig schien.
 
In der mit Gewalt auf das asiatische Festland drängenden japanischen Politik vermischten sich von Anfang an drei höchst unterschiedliche Faktoren: Zu dem von der Führung stets bemühten Moment der Verteidigung kam ein sozialimperialistisches hinzu. Die von der Modernisierung im Lande bewirkten gesellschaftlichen Verwerfungen ließen sich mithilfe einer auf den Kaiserkult gründenden Missionsideologie leicht nach außen ablenken. Was nur wenige sozialistische Theoretiker als die eigentliche Triebkraft der japanischen Expansionspolitik ausmachten, nämlich ungelöste innere Spannungen, sollte tatsächlich zum Hauptmotiv für die aggressive Außenpolitik des kaiserlichen Japan werden. Als dritter Faktor, gewissermaßen der Hintergrund des japanischen Vorgehens in Asien, ist die internationale Politik der etablierten Großmächte zu sehen, die sich in China überschnitt und dem aufstrebenden Japan nur wenig Handlungsspielraum ließ.
 
 Anfänge expansionistischer Außenpolitik
 
Das benachbarte »Reich der Mitte« war für Japan seit der Entstehung des ersten Gemeinwesens universalpolitischer Bezugspunkt und gesellschaftliches Leitbild über Jahrtausende gewesen. Die von den Gründervätern der Meijizeit zur Staatsdoktrin erhobene Shintō-Ideologie von der göttlichen Abstammung des Herrschers und seiner immer währenden, ungebrochenen Herrschaft forderte den Führungsanspruch des »Sohnes des Himmels« auf dem Pekinger Drachenthron direkt heraus. Fortan sollte Tokio zum Mittelpunkt eines großjapanischen Reiches werden und die Rolle Pekings übernehmen. Der kleine Bruder war angetreten, den großen Bruder zu entmachten, was den konfuzianistischen Normen zutiefst widersprach.
 
Zum eigentlichen Streitfall zwischen China und Japan wurde Korea. Das dem chinesischen Tributärsystem zugehörige »Land der Morgenstille« entzog sich der japanischen Aufforderung zur Öffnung von Häfen und Aufnahme eines geregelten Handelsverkehrs. Eine ursprünglich wegen dieser »Beleidigung« schon 1873 geplante Strafexpedition wurde aus innerer Schwäche vertagt. Auf diplomatischem Wege gelang es der japanischen Führung in Absprache mit dem damals noch stärkeren China, die Koreaner zum Einlenken zu bewegen. Keine zwanzig Jahre nach Unterzeichnung des ungleichen Handelsvertrages mit den Amerikanern zwang Japan nach amerikanischem Vorbild Korea 1876 einen Vertrag auf, der ihm Zollpräferenzen und Exterritorialität im einzigen geöffneten Hafen, Pusan, einbrachte. Selbst noch durch ungleiche Verträge seiner vollen Souveränität beraubt, wandte Japan dieses imperialistische Herrschaftsinstrument bei seinem direkten Nachbarn an, betonte indes, wie es einst auch die Amerikaner getan hatten, das Land lediglich in die Familie der zivilisierten Staaten führen zu wollen. Erstmals war das Motiv der Befreiung asiatischer Völker von ihrer Rückständigkeit und Bevormundung durch andere Mächte angeklungen. Zu dieser Befreiungsmission sei Japan aufgrund seiner göttlichen Herkunft geradezu bestimmt.
 
 Chinesisch-Japanischer Krieg 1894/95
 
China und Japan hatten auf die Bedrohung durch den Westen in ganz unterschiedlicher Weise reagiert. China hatte zwar eine Reihe von Demütigungen durch die Westmächte und innere Erschütterungen, wie den Taipingaufstand, als Folge der Öffnung des Landes hinnehmen müssen, vertraute indes nach wie vor auf die Überlegenheit seiner Kultur gegenüber den Herausforderern, den Westmächten wie den benachbarten Japanern. Die chinesischen Mandarine, die Gelehrten des Landes, weigerten sich daher schlichtweg, eine von Kanonen und Kommerz ausgehende Bedrohung überhaupt wahrzunehmen. Hingegen reagierte die japanische Führungselite entsprechend den ihr vertrauten kriegerischen Normen und nahm den westlichen Fehdehandschuh auf.
 
Die brisante Mischung einer dreifachen Überfremdung Koreas mit japanischem Nützlichkeitsdenken, westlich-christlichen Idealen und chinesischem Traditionalismus artikulierte sich in einer bäuerlichen, ideologisch »östlich«, das heißt asiatisch ausgerichteten Protestbewegung, die, nicht unähnlich der Taipingbewegung, im Kampf gegen alles Fremde und die durch die Fremden korrumpierte Regierung Erlösung von allen Übeln, wie beispielsweise der wirtschaftlichen Misere, verhieß. Als diese Tong-Hak-Rebellion im Frühjahr 1894 den Königshof in Seoul bedrohte, entsandten Japan und China gleichzeitig Truppen, um ihre Interessen wahrzunehmen. China wollte die alte Ordnung in Korea restauriert sehen, dagegen Japan Korea von der chinesischen Vormundschaft befreien. Der militärische Konflikt war nicht mehr aufzuhalten.
 
Von den westlichen Großmächten unterstützte Großbritannien das japanische Vorgehen in Korea, um das russische Vordringen in Asien aufzuhalten. Das Reich des Tenno bekam diese Statthalterrolle britischer imperialer Ambitionen ausdrücklich bestätigt, als Großbritannien am 16. Juli 1894 auf seine aus ungleichen Verträgen mit Japan herrührenden Sonderrechte verzichtete und das fernöstliche Inselreich als souveränen Partner in die Völkerfamilie aufnahm. Japan hatte seine Probe- und Anwartzeit auf Gleichrangigkeit mithilfe eines groß angelegten Reformprogramms aus westlicher Sicht erfolgreich bestanden und konnte, mit diesem Reifevermerk ausgestattet, den Krieg gegen das nach wie vor durch ungleiche Verträge mit dem Westen unterdrückte, schwächliche China beginnen.
 
Der Weg zum Frieden von Shimonoseki
 
Nur eine Woche nach dieser Mündigkeitserklärung versenkten japanische Kriegsschiffe am 25. Juli 1894 chinesische Truppentransporter. Die japanische Kriegserklärung wurde China am 1. August 1894 nachgereicht. In ihr wurde die Befreiung Koreas aus chinesischer Knechtschaft als hehres Ziel eines Japan aufgezwungenen Kampfes genannt.
 
Der Verlauf des Krieges schien das japanische Erneuerungsprogramm zu bestätigen. Obwohl die japanischen Verbände numerisch bei den einzelnen Kämpfen meist unterlegen waren und die Chinesen über hochmodernes Kriegsmaterial verfügten, waren die schlecht geführten und häufig korrumpierten chinesischen Heerhaufen kein Gegner für die disziplinierte und kampfbereite japanische Armee. Soldaten galten in der chinesischen Gelehrtenwelt nichts, während die Samurai in Japan die Nation führten.
 
Als der japanischen Armee der Weg nach Peking offen stand, willigte China im April 1895 in Friedensverhandlungen ein. Das japanische Kriegsziel, den tributären Ring Chinas aufzubrechen, vermochte Itō, inzwischen der einflussreichste japanische Politiker aus dem ehemaligen Han Chōshū, bei den Verhandlungen in Shimonoseki (also in Chōshū) vollauf zu erreichen. China trat Formosa und die Halbinsel Liaodong mit Port Arthur an Japan ab und bestätigte die »vollständige Autonomie und Unabhängigkeit« Koreas. Außerdem verpflichtete sich China zur Zahlung einer beträchtlichen Kriegsentschädigung, öffnete den Japanern weitere Häfen und gestand dem Sieger die gleichen Sonderrechte im Reich der Mitte zu, die sich die Westmächte einst gewaltsam genommen hatten. Aus den eigenen ungleichen Verträgen gerade entlassen, gesellte sich Japan fortan in China als gleichrangige Macht zu den imperialistischen Mächten. Nunmehr unterlagen japanische Staatsbürger in China wie alle »Westler« nicht der chinesischen Gerichtsbarkeit, sondern genossen Exterritorialität. Der kleine Bruder Japan hatte den großen Bruder China nicht nur militärisch besiegt, sondern auch tief gedemütigt. Der Friedensvertrag von Shimonoseki war folglich nur ein brüchiger Waffenstillstand.
 
Das japanische Massaker an der Zivilbevölkerung nach der Einnahme von Port Arthur war der Weltöffentlichkeit bereits bekannt, als die drei westlichen Großmächte Frankreich, Russland und Deutschland in einer gemeinsamen Demarche dem Sieger den »freundschaftlichen Rat« erteilten, im Sinne des Friedens in Ostasien auf den Erwerb der Halbinsel Liaodong zu verzichten. Japan, soeben souverän geworden, sollte sich mit der Rolle eines Juniorpartners der europäischen Großmächte bescheiden. Die Empörung im Lande, vor allem über die exponierte deutsche Haltung, war nicht nur innerhalb der Regierung groß. Japan gab notgedrungen nach und erhöhte die finanziellen Forderungen an China in einem solchen Maße, dass dessen Staatshaushalt in der Zeit der Monarchie bis 1911 nicht wieder ins Lot kommen sollte.
 
Der Krieg mit China brachte langfristig eine Abkehr Japans von Deutschland mit sich und mündete in den britisch-japanischen Bündnisvertrag vom 30. Januar 1902. Das Bündnis mit Großbritannien wiederum stellte für Japan auch eine unabdingbare Voraussetzung dar, um, wie von britischer Seite beabsichtigt, das weitere Eindringen des »russischen Bären« in Korea und in der Mandschurei aufzuhalten.
 
Prof. Dr. Bernd Martin, Freiburg
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Russisch-Japanischer Krieg 1904-05: Kampf um die Vorherrschaft in Asien
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Japan: Die Meijireformen 1868 bis 1890

Universal-Lexikon. 2012.

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